Neue Zähne – am Beispiel von genetisch fehlenden Zahnschmelz (Amelogenesis Imperfecta)
Bei ca. einem von 10.000 Patienten treten genetisch bedingte Störungen der Bildung von Zahnschmelz auf. Diese unter dem Begriff Amelogenesis Imperfecta (AI) zusammengefassten Entwicklungsstörungen, die auf einer Fehlfunktion der Proteine im Zahnschmelz beruhen, können verschiedenartig und unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Die Erscheinungsformen reichen von minder mineralisiertem Zahnschmelz, über zu dünnen Zahnschmelz bis hin zu gänzlich fehlendem Zahnschmelz an einzelnen oder auch allen Zähnen eines Gebisses.
Das freiliegende Dentin ist schmerzempfindlich. Im Kindes und Jugendalter ist es am sinnvollsten, solche Zähne mit direkten Kompositfüllungen (Kunststofffüllungen) oder Verblendung bzw. Kronen aus Komposit als Erstversorgung zu versehen. Dies kann über mehrere Jahre, bis die Zähne vollständig durchgebrochen sind, ausreichend gut funktionieren. Ab einem Alter von 18 – 24 Jahren wird es aber erforderlich, die Zähne mit keramischen Versorgungen dauerhaft zu schützen und zu stabilisieren. Kunststoff ist nicht steif und nicht abrasionsstabil genug, um über mehrere Jahrzehnte einen dauerhaften und sicheren Zahnersatz bei Amelogenesis Imperfecta zu gewährleisten. Glücklicherweise stehen und heute die Materialien und Methoden zur Verfügung, solche fehlgebildete Zahnsubstanz langfristig und vollwertig zu ersetzen. Dies sind im Besonderen hochfeste transluzente ästhetische Silikatkeramik (Lithiumdisilikat) und spezielle für Zahnsubstanz entwickelte und optimierte Kunststoffkleber, sog. Dentinadhäsive, Haftvermittler und Befestigungskomposite. Da die vollkeramischen Restaurationen, die sich je nach Ausdehnung der Defekte als Teilkronen oder Kronen gestalten können, mit der Zahnsubstanz verklebt werden und gleichzeitig die neuen Keramiken auch dünne Schichtstärken unter 1,0 mm erlauben, ist es heute im Gegensatz zu früher nicht mehr notwendig, solche Zähne zusätzlich stark zu parallelen Stiften abzuschleifen, um dickwandige verblendete metallkeramische Vollkronen zementieren zu können. Die moderne Adhäsivprothetik ermöglicht uns ein substanzschonendes defektorientiertes Vorgehen.
Bei Fällen mit Schmelzbildungsstörung an allen Zähnen ist häufig eine kieferothopädische Vorbehandlung zur Stellungskorrektur der Zähne erforderlich, da die unvollständig ausgebildeten Zähne sich nicht von selbst in die korrekte Position einordnen. Genetisch ist die Schmelzbildungsstörung häufig mit einem sogenannten offenen Biss vergesellschaftet, bei dem kein ausreichender Frontzahnüberbiss und keine Frontzahn- Eckzahnführungen vorliegen. So auch in dem in den Abbildungen gezeigten Fall.
Auch die Bisslage muss in solchen Fällen von Amelogenesis Imperfecta berücksichtigt werden. Die fehlgebildeten Zähne ohne Zahnschmelz können für keine ausreichende Abstützung des Bisses sorgen und die gegenüberliegenden Zähne nähren sich einander zu stark an. Ein Bissabsenkung, bei der Unter- und Oberkiefer zu nah zueinander sind, ist die Folge. Die erforderlich Bisshebung als Vorbehandlung erfolgt mittels einer herausnehmbaren Aufbissschiene an die sich nach einigen Wochen ein provisorischer Aufbau der Okklusion mittels laborgefertigter Kunststoffkauflächen, die auf die Zähne geklebt werden, anschließt (sog. Okklusalaufbauten oder okklusale Repositionsveneers). Eine solche Bisshebung schafft auch zum Teil den notwendigen Platz für die späteren endgültigen Versorgungen aus Keramik. Derart umfassende Eingriffe in die Funktion und Statik des Kauorgans bedeuten natürlich eine besondere Verantwortung für Zahnarzt und Zahntechniker. Ein sorgfältige ästhetische und funktionelle Analyse, eine solide prothetische Planung und nicht zuletzt ausreichend Erfahrung mit so großen Fällen sind die Voraussetzung für ein erfolgreiches und langfristiges Behandlungsergebnis.
Nachdem durch diese vorbereitenden Behandlungen eine stabile und reproduzierbare Bisslage sowie die korrekte Zahnstellung eingestellt wurden, kann die definitive Versorgung der Zähne erfolgen.
Die Herausforderung für Zahnarzt und Zahntechniker bei Amelogenesis Imperfecta besteht bei derart umfassenden Behandlungen aller Zähne vor Allem darin, für jeden einzelnen Zahn die gleiche Sorgfalt, Präzision und den Aufwand aufzubringen, wie bei einer Einzelzahnversorgung. Der durchschnittliche Zeitaufwand für eine Einzelkrone beträgt am Behandlungsstuhl zwischen 60 und 90 Minuten. Bei 28 Zähnen summiert sich der Behandlungsaufwand daher schon mal auf 30 – 50 Stunden, auch wenn durch die gleichzeitige Behandlung mehrere Zähne gewisse Arbeitsschritte eingespart werden können. In der Laborherstellung werden für eine derartige Arbeit in der Regel drei bis vier Wochen Aufwand veranschlagt. Die Wiederherstellung aller Zähne eines Gebisses erfordert es, dass im Labor zum einen jedem einzelnen Zahn die gleiche Aufmerksamkeit im Detail gewidmet wird und zum anderen gleichzeitig das große Ganze nicht aus dem Blick gerät. Die kompletten Zahnreihen müssen als Gesamtheit zur Funktion und dem Aussehen des Patienten passen und gleichzeitig müssen die einzelnen Zähne untereinander zu einander stimmig sein. Bei normalen Zahnversorgungen von einzelnen oder wenigen Zähnen sind mit den Nachbar- und Gegenzähnen die umgebenden Parameter vorgegeben und können nachgebildet bzw. die Formgebung der Kronen oder Teilkronen daran angepasst werden. Wenn kein einziger gesunder Zahn mehr vorhanden ist, muss der Zahntechniker ein vollständiges Kauorgan naturgetreu und funktionstüchtig nachbilden. Dies beherrschen nicht alle Zahntechniker im selben Maße. Auch die Präparation und die adhäsiven Befestigung von so umfangreichen Arbeiten stellen hohe Anforderungen hinsichtlich Routine, Konzentration, Überblick und Sicherheit an den Zahnarzt. Dieser trägt letztendlich die Verantwortung dafür dass die neuen Zähne so gut funktionieren, wie es der Patient benötigt und so gut aussehen, wie es sich der Patient vorstellt. In unsere Praxis werden immer wieder solche Fälle von Amelogenesis Imperfecta von Kollegen überwiesen, die realisieren, dass solche Fälle aufgrund ihres seltenen Auftretens und einer mangelnden eigenen Routine in Planung und Umsetzung besser bei einem Spezialisten für Ästhetik und Funktion in der Zahnmedizin aufgehoben sind.
Dr. Jan Hajtó